Mein Od-Kind,


Seit tausend Wintern wissen es die Weisen, dass mit den Menschen Seelengeister reisen, in der Gestalt von mädchenhaften Wesen, oft lieblich, elfenschön, wie auserlesen.
Ihr Antlitz zeigen sie in manchen Träumen, dann treten sie aus ihren Zwischenräumen, sie warnen uns vor kommenden Gefahren, durch Sinnbild-Zeichen die sie offenbaren.
Die Freundschaft mit der Seele ist zu pflegen, wer dies vermag erlebt den reichsten Segen. Wir sollten danach suchen, danach streben, dann wird uns Hilfe für ein starkes Leben.
Wem es gelingt mit seinem Geist zu reden, wird mit Erfolg den Unglücksgeist befehden; den guten Ratschlag wird er nie vermissen, er wird den rechten Weg wohl immer wissen.
Und wär’ er einmal trotzdem unbedacht, so greift der Glücksgeist ein, gibt selber acht. Wer solchen wundersamen Schutz gewinnt, den nennt der weise Volksmund Sonntagskind.
Denn Sonnenheil ist allerwegs vonnöten, die lichte Kraft allein kann Lippen röten; die Sonnenfunken fahren in die Herzen, im Schimmer schmelzen unsere Schmerzen.
Urferne Ahnen schon erkannten jene Kräfte, gewachsen aus des Sippenblutes Säfte -; mit lichten Himmelsgöttern dicht verwandt, herab aus Nordens klarer Höhe hergesandt.
Hamingja nannten unsre Ahnen diese Geister, so lehrten’s schon der Runen hehre Meister; auch Fylgja, Folgegeist galt als Benennung, doch wäre Od-Kind klar die beste Kennung.
Od meint die Seele, meint Gemüt und Geist, Od ist das Gut und jenes das zur Spitze weist; Od ist das Ur-Es, das zu allem Anfang war, Od ist die Kraft die sich die Welt gebar.
Mein Od-Kind wandelt treu an meiner Seite, bei Tag und Nacht, im Frieden wie im Streite -; und kehr' ich einst zur ewigen Himmelsruh’, dann trägt es mich den hohen Sternen zu.
Gerhard Hess

 

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